Fallbeispiel Verlassenheitsgefühl

Verlassenheitsgefühl

Nadja war im Kindergartenalter. Als sie zehn Monate alt war, begann ihre Mutter vierzig Prozent zu arbeiten. Nadja erhielt eine Tagesmutter. Die Sehnsucht nach der Mutter äusserte sich jedoch so stark, dass sich selbst die erfahrene Tagesmutter in ihrer Not mit dem leidenden Kind nicht mehr zu helfen wusste. Befand sich Nadja bei der Mutter, klebte sie buchstäblich an ihr. Alles Schimpfen, Bestrafen und Tricks wie Versprechungen einer Belohnung, wenn sie brav sei, nützten seit Jahren nichts.

Ihre innere Heilgeschichte:

Nadja schloss die Augen und ich begleitete sie in das Land der geistigen Bilder. Ich führte sie durch das grosse von Efeu bewachsene Tor, hinunter über moosig federnde Stufen, über die Brücke, unter welcher der Bach sprudelte und Fische sprangen. Schliesslich forderte ich sie auf, sich an einen schönen Ort zu setzen.
Ich sagte ihr: „Du bist jetzt alleine hier, was du nicht gerade magst. Schau dich mal um, ob du ein Tier entdeckst, das dir Gesellschaft leisten und dir helfen wird.“
Es dauerte nicht lange, da erblickte Nadja ein Reh. Ich ermunterte sie, das Reh zu begrüssen. Nach der Begrüssung wollte das Reh fressen. Es frass lange Zeit, danach wollte es trinken. Als es seinen Durst gelöscht hatte, entfernte es sich. Ich liess Nadja das Reh fragen, ob sie ihm folgen soll. Sie vernahm, wie das Reh „Ja!“ sagte.
Plötzlich rief Nadja: „Wir gehen nach Afrika!“
Nadja lag konzentriert auf der Liege, so erkannte ich, dass sie innerlich schaute und unterwegs war nach Afrika. Ich vernahm nichts von dem, was sie erlebte, bis sie schliesslich von selbst ihr Schweigen brach: „Nun geht es nicht mehr weiter!“
Ich wollte wissen, wo sie gerade seien und sie erwiderte, sie seien in Deutschland. Daraufhin hörte ich sie erleichtert mitteilen: „Ah, wir müssen hinauf klettern! – Nun sind wir in Afrika!“
In Afrika entdeckte Nadja Affen und eine Giraffe. Alle Tiere schlossen sich der Gruppe an. Dazu gesellten sich ein Eichhörnchen und schliesslich ein Babyelefant. Das machte mich hellhörig! Ich wollte vom Babyelefanten wissen, wie es ihm geht. Er klagte sein Leid: Er sei traurig, denn er habe seine Mamma verloren.
Ich liess Nadja den Babyelefanten fragen, was er sich von ihr wünsche. Auch er wollte sich der Gruppe anschliessen und mitkommen. Daraufhin dauerte es ein paar Sekunden und das Mädchen bemerkte abrupt, er habe seine Mamma gefunden und die Geschichte sei nun fertig. Sie öffnete die Augen, schaute kurz zu mir und dann lange Zeit zu ihrer Mutter, welche etwas weiter weg vom Tisch die Geschichte mitverfolgt hatte. Sie blickten sich wortlos an, bis Nadja sie schliesslich bat, zu ihr zu kommen, wo sie Mamma’s Hand fasste und sie an ihre Stirn führte, um liebkost zu werden. Die Mutter nahm sie auf ihren Arm und wiegte sie schweigend. Es war ein inniger und berührender Moment von Frieden und grosser Nähe. Ich dachte: Endlich hat Nadja ihre innerlich verlorene
Mutter wieder gefunden, welch Glück! Schliesslich fragte ich Nadja, ob denn die anderen Tiere Erwachsene oder ebenfalls Babys waren. Sie erzählte, alle Tiere seien Babys gewesen und hätten ihre Mütter verloren. Am Schluss hätten sie alle ihre Mütter wieder gefunden.

Beim Verlassen der Praxis fügte die Mutter bei, die Verlassenheit ihrer Tochter sei so gross gewesen, dass sie sich von ihr nicht mehr trennen wollte, um am Kindergarten teilzunehmen. Nachts im Bett, in welchem sie seit langem nur noch mit der Mutter schlafen konnte, erwachte sie öfters und kontrollierte mit der Hand, ob die Mutter noch da sei. Ich war sehr berührt von der inneren Einsamkeit, Trauer und Verzweiflung, die das Kind so lange in sich getragen hatte und so wartete ich gespannt auf die Rückmeldung der Mutter. Wie würde sich das Wiederfinden der Tiermütter und ihrer Kinder auswirken?

Die Rückmeldung war erfreulich: Das Mädchen schlief jetzt jede Nacht alleine und dies freiwillig. Das war das erste Mal seit fünf Jahren!

Auszug aus meinem Buch „Frage dein Krafttier“.